Was ist die Lösung für mehr Organspenden in Deutschland?

Spenderorgane sind in Deutschland Mangelware

Warum sind die Deutschen so zurückhaltend mit Organspenden? Ist dieser Akt der Nächstenliebe aus der Mode gekommen? Oder kämpft die Branche nach dem Bekanntwerden von manipulierten Vergabelisten weiterhin mit einem massiven Vertrauensverlust? Bundesweit gab es 2017 nur 797 Spender. Den Transplantations-Medizinern standen damit für ihre lebensrettende Arbeit lediglich 2.594 in Deutschland entnommene Organe zur Verfügung. Doch schauen wir uns die Zahlen zum Thema dazu genauer an. Eigentlich sieht die Situation deutlich weniger bedrohlich aus. Immerhin 84 Prozent der erwachsenen Deutschen sollen Organspenden nicht ablehnend gegenüberstehen. Einen Spender-Ausweis haben jedoch nur 36 Prozent.

Wie kommt diese Diskrepanz zustande? Darüber diskutierten Politiker und Mediziner am 24.09.2018 im Verlagshaus des Tagesspiegels. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob eine Widerspruchlösung die sinkende Organspendenbereitschaft der Deutschen aufhalten oder den Trend sogar umkehren kann. Die Widerspruchslösung macht zunächst einmal alle zu potentiellen Organspendern. Es sei denn, sie haben sich für den Fall ihres Todes explizit dagegen ausgesprochen. So beispielsweise sind Organspenden in den Niederlanden und vielen anderen europäischen Staaten geregelt.

Was gilt für Organspenden derzeit in Deutschland?

Bisher gilt in Deutschland die Entscheidungslösung. Sie kann im Organsspendeausweis dokumentiert werden. Hat der Verstorbene sich zu Lebzeiten nicht geäußert, sind seine Angehörigen gefragt. In einem höchst unpassenden Moment der Trauer müssen Sie eine Entscheidung treffen. Wäre es im Sinne des Toten, wenn sie seine Organe für eine Transplantation freigeben? Oder verletzen sie damit einen letzten Willen. Es ist viel verlangt, so etwas zu entscheiden. Diese Frage bringt auch die Ärzte oft in schwierige Situationen.

Die damit verbundenen Probleme ließen sich durchaus umgehen. Denn in Deutschland werden Versicherte von ihrer Krankenkasse regelmäßig zum Thema angeschrieben. Sie werden aufgefordert, eine freiwillige Erklärung zum Thema Organspenden abzugeben. Soweit die Theorie. Eine nicht-repräsentative Blitzumfrage unter den Anwesenden der Veranstaltung ergab allerdings ein anderes Bild. Etliche hatten von ihrer Krankenkasse noch nie eine entsprechende Information erhalten. Zumindest konnten sie sich nicht daran erinnern.

Doch liegt hier in das Problem? Jeder weiß: Was freiwillig ist, das wird allzugern auf die lange Bank geschoben. Dann gerät es über kurz oder lang in Vergessenheit. Schließlich gibt es genügend Dinge, die im Alltag sonst noch zu regeln sind. Deshalb wird seit Juni 2018 von den Bundesländern neben der Widerspruchslösung auch die verpflichtende Entscheidungslösung diskutiert.

Jeder Mensch sollte mindestens einmal im Leben darüber nachdenken …

„Wir geben unseren Patienteninnen und Patienten in den meisten Fällen Organe aus Ländern mit Widerspruchslösung, beteiligen uns selbst aber nicht. Das muss sich ändern“, fordert der Präsident der Ärztekammer Berlin, Dr. Günther Jonitz. Denn die Bereitsschaft zu Organspenden geht ja zugleich mit einer anderen Frage einher: Möchte ich selbst im Fall der Fälle ein rettendes Organ für mich beanspruchen? Oder lehne ich das aus verschiedenen Gründen ab? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage betrifft alle Altersgruppen. Bei der Veranstaltungs des Tagesspiegels waren jedoch die älteren Besucher eindeutig in der Überzahl.

Das Problem: Ältere Menschen sind als Spender von Organen oft gar nicht die erste Wahl. Es hilft also wenig, wenn sie in ihren Patientenverfügungen das Thema auf vorbildliche Weise regeln. Nur der akute Mangel führt dazu, dass heute auch recht „betagte“ Organe transplantiert werden, beklagte beispielsweise der Direktor des Deutschen Herzzentrums Berlin (DHZB), Prof. Volkmar Falk. So müssten Transplantationsmedizinern zunehmend mit Organmaterial Leben retten, das noch vor 10 Jahren durch jedes Prüfraster gefallen wäre.

Catherina Pieroth, ges.pol. Sprecherin der GRÜNEN-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus sprach sich deshalb schon in ihrem ersten Redebeitrag vehement für die verpflichtende Entscheidungslösung aus. Wenn junge Menschen frühzeitig genug an das Thema herangeführt werden, könnte sich die Situation zum Guten wenden. Doch wie findet man dazu den passenden Anlass?

Perspektivwechsel: Prof. Volkmar Falk (rechts) Foto: Ralf Klingelhöfer

Ab wann sollte man sich für oder gegen Organspenden entscheiden?

Es sei zumutbar, betonte die Politikerin, auch ganz junge Menschen dazu aufzufordern, zum Thema Stellung beziehen. Und es gäbe viele Anlässe, die dazu wie geschaffen sind. Wer beispielsweise seinen Führerschein beantragt, könne parallel dazu auch gleich seinen ersten Organspende-Ausweis ausfüllen. Das hieße ja nicht, dass damit ein JA zur Organspende fallen muss. Hauptsache sei, es falle überhaupt eine Entscheidung, die die Hinterbliebene von dieser Aufgabe entlastet. Die Diskussionsrunde, an der auch Sabine Weiss, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Gesundheit und Prof. Dr. Frank-Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekamer teilnahmen, ist auf diese Frage nicht zurückgekommen. Alle sprachen sich ausdrücklich für die Widerspruchslösung aus.

„Mir ist es wichtig“, versicherte Catherina Pieroth auf unsere Anfrage, „dass sich die Menschen regelmäßig mit dem Thema Organspende befassen. 84 Prozent der Menschen in Deutschland stehen der Organspende positiv gegenüber, aber nur 36 Prozent haben einen Organspendeausweis ausgefüllt. Das heißt: Wir haben eine hohe Anzahl von Menschen, die einer Organspende gegenüber positiv eingestellt sind, aber keinen Ausweis ausgefüllt haben. Hier gilt es nachzufragen. Gerade, wenn es eine regelmäßige Abfrage der Entscheidung gibt, dann haben Menschen auch das Vertrauen, ihre Meinung ändern zu können. Und deshalb ist es wichtig, dass die Menschen häufig zu wiederkehrenden Anlässen gefragt werden. Denn: Die hohe Zahl derer, die gar keine Entscheidung getroffen haben, sollten wir verringern. Organspenden werden immer Ausnahmemedizin bleiben – aber das Nachdenken über die eigene Bereitschaft muss Routine werden“

Mut zu neuen Ideen: Catherina Pieroth (mitte), Foto: Ralf Klingelhöfer

Organspenden sind für Kliniken ein Minusgeschäft

Staatsekretärin Sabine Weiss machte in ihrem Eröffnungsvortrag deutlich, dass keineswegs nur die fehlende Bereitschaft der Bürger für die gegenwärtige Situation verantwortlich sei.  So würden potentielle Organspender im Klinikalltag oft gar nicht als solche identifiziert. Die meisten Ärzte hätten auch gar keine Routine im Erkennen eines nahenden Hirntodes.

Wer den Klinikalltag in Deutschland kennt, der weiß, dass es beim Thema deutliche Interessenkonflikte gibt. Auf der Intensivstation heißt Organspende nicht Leben retten, sondern zusätzliche Arbeit. Vor der Spende eines Organs sind verschiedene Untersuchungen notwendig. Vor allem aber ist eine Hirntotdiagnostik vorgeschrieben. Dann muss mit den Angehörigen gesprochen werden. Dannach kann das betreffende Organ entnommen und schließlich für den Transport versorgt werden. Das bindet Kapazitäten.

„Wenn die Ärzte sich entscheiden, den sterbenden Patienten sterben zu lassen, dauert das vielleicht einen halben Tag. Danach ist das teure Intensivbett wieder frei für einen neuen Patienten. Der Neue bringt neues Geld in die Klinikkasse. Geht es stattdessen in Richtung Organspende, ist das Bett mitunter weitere Tage belegt. Denn bis die vorgeschriebene Hirntoddiagnostik durchgeführt und alles für die Entnahme der Organe vorbereitet ist, vergeht Zeit. Am Ende müssen die Organe in einem Operationssaal mit Klinikpersonal entnommen werden. Das geschieht meist tief in der Nacht. Eine Organspende verbraucht viel Zeit und Ressourcen. Sie bringt der Klinik aber keinen Gewinn, so fasst es Patrick Hünerfeld vom SWR Baden-Baden schon im Januar 2017 zusammen.

Selbst Ärzte haben nur selten einen Organspendeausweis

Auch Dr. Günter Jonitz beklagte diese Ökonomisierung des Gesundheitswesens vehemet. Es sind Anforderungen in Form von Controlern, die die Ärzte dazu anhalten würden, Umsätze zu generieren. Das heißt im Klartext, sie soll die OPs nicht mit Menschen füllen, die keine Hilfe mehr benötigen würden. Organspende ist in den meisten Krankenhäusern eine „exotische Maßnahme“ brachte Ulrich Frei, der Ärztliche Direktor der Charité, das Drama auf den Punkt. Das Klinikpersonal auf Intensivstationen und in Operationssälen verfüge keineswegs flächendeckend über die notwendigen Fachkenntnisse zum Thema. Und nicht einmal Ärzte hätten in Deutschland flächendeckend einen Organspendeausweis. Es gäbe Teams, in denen sich kein einziger Mitarbeiter für eine Organspende entscheiden wolle. Mangelt es an Vertrauen gegenüber dem gesamten Prozedere – von der Feststellung des Hirntodes bis zur Organvergabe?

Dr. Michael de Ridder ließ die sachlich geführte Diskussion schließlich deutlich emotionaler werden. Der ehemalige Leiter der Rettungsstelle im Urban-Krankenhaus  macht eine „unredliche Aufklärung“ für den Misstand verantwortlich. Seiner Ansicht nach ist nicht erst der Organspendeskandel von 2012 für die sinkende Spenderbereitschaft verantwortlich. Die Ängst derer, die sich als Organspender bereit erklären sollen, findet de Ridder viel zu wenig berücksichtigt. Ihm scheint es sogar, als sollen wir alle unter moralischen Druck gesetzt werden, damit Organspende unabhängig von allen individuellen, emotionalen oder religiösen Überlegungen einfach Usus wird. Genaus das aber erzeugt Unbehagen, wo eigentlich doch schon Zustimmung am Horizont erscheinen würde.

Kämpferisch: Dr. Michael de Ridder (links), Foto: Ralf Klingelhöfer

Wie lebt es sich mit einem fremden Organ?

Angehörige eines Organspenders sind am Ende meist sehr froh über ihre Entscheidung. Darauf verwies Prof. Falk. Einem anderen Menschen geholfen zu haben, kann über den eigenen Verlust hinwegtrösten. So geht das Leben weiter. Ein anderer muss nicht sterben und hat die Chance auf eine neue Lebensqualität.

Wie es denen ergeht, die ein Organ erhalten, vermittelte Gudrun Ziegler vom Forum Organtransplantation Berlin e.V. Leider wurde sie nur aus dem Publikum heraus interviewt. „Ich habe mich in der Wartezeit gefragt, warum soll ich von meinen Mitmenschen die Rettung meines Lebens erwarten? Zunächst hofft man auf die Hilfe der Medizin. Dann begreift man, auch dort Hilfslosigkeit, Warten und Zuschauen wie Patienten, denen Ärzte helfen könnten, sterben müssen.“ Den vollständigen Betrag von Gudrun Ziegler können Sie in der Broschüre des Tagesspiegels nachlesen.

Schon dieser kurze Einblick in die Vielfalt der Themen, die am 24.09.2018 zur Sprache kamen, zeigt: Wir müssen uns mehr mit dem Thema Organspende befassen. Jeder von uns muss das tun. Er sollte sich dazu einerseits selbst befragen und sich andererseits mit Informationen aus möglichst vielen Quellen versorgen. Mehr Hintergrundwissen bedeutet nicht unbedingt ein klares JA oder NEIN. Es kann durchaus passieren, dass es im Laufe des Lebens und durch einen neuen Wissensstand zu einer anderen Entscheidung kommt. Aber das ist allemal besser, als das Thema einfach auszublenden. Niemand sollte anderen aufbürden, was er für sich selbst viel besser selbst entscheiden kann.

Text: Gerburg Richter | Fotos: Ralf Klingelhöfer