Systemsprenger: Das ist mein Favorit für den Bären 2019

Entdeckung auf der Berlinale 2019

Am vergangenen Samstag stand ich in der langen Schlange vor dem Haus der Festspiele. Ich wollte „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt anschauen. Dieser Film, der es auf Anhieb in den Wettbewerb um den Bären geschafft hat, ist ein Erstling. Nora Fingscheidt kommt eigentlich vom Dokumentarfilm. In Systemsprenger erzählt sie uns das Drama eines 9-jährigen Mädchens, an dem alle verzweifeln. Benni (eigentlich Bernadette) ist ein liebenswertes Geschöpf. In den ersten Minuten des Films sieht man einen zerschundenen Körper. Blaue Flecken, kaum abgeheilte Striemen und Kratzspuren. Man ist entsetzt und voller Mitgefühl. Was ist diesem zarten Körper passiert? Wer hat sein Gesicht so zugerichtet? Doch dann wird klar: In Bennis Brust wohnen zwei Seelen.

Der anfängliche Schein trügt. Dem Mädchen mit den bloden Haaren hat niemand etwas zuleide getan. Gerade hat es noch freundlich gelächelt, aber dann, wenige Sekunden später, rastet es ohne Grund aus. Die Wut kommt mit einer solchen Wucht, dass es einem den Atem verschlägt. Und so geht es den ganzen Film. Wir begleiten Benni bei ihrer Odysse durch das System, das ihr eigentlich helfen soll. Wir erleben die Überforderung und Hilflosigkeit der Erwachsenen. Alle mühen sich redlich, dem Mädchen beizustehen. Doch dann zeigen sich überall Grenzen. Fast 30 Heime und Wohnprojekte hat Benni bereits hinter sich gelassen. Jedes Mal hat sie offenbar gesprengt, was ihr Halt und Neuorientierung geben könnte. Zur Mutter kann das Kind nicht zurück. Denn die ist nicht nur von der Wut ihrer Tochter, sondern auch von ihrem eigenen Leben überfordert. Vor Bennis Agressionen hat vermutlich sie von allen die allergrößte Angst.

Was muss Benni widerfahren sein?

Was ist mit dem zarten blonden Mädchen passiert? Diese Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe, wird im Film nicht wirklich beantwortet. Mit Sicherheit steckt hinter Bennis Wut ein traumatisches Erlebnis in frühster Kindheit. Hat jemand Benni benutzte Windeln ins Gesicht gedrückt. Ihr Vater? Der neue Freund der Mutter? Hat ihr Weinen gestört? Hat Benni von Anfang an zu sehr nach Aufmerksamkeit verlangt? Wir erfahren die Hintergründe ihrer Pein nicht im Detail. Wir wissen nur eines: Das Mädchen erträgt nicht, im Gesicht berührt zu werden. Nur ihre Mutter darf das. Aber die ist weit weg. Und so oft Benni auch ausbricht, um die Mutter zurückzubekommen. Sie wird von dieser Frau immer neu enttäuscht und verlassen.

Dass hinter Bennis Gewaltausbrüchen und Wut die große Sehnsucht nach Liebe steckt, wer könnte das übersehen. Aufmerksamkeit und Zuwendung wird Benni durchaus in vielen Situation zuteil. Alle, die es auf professionelle Weise mit ihr aufnehmen wollen, verhalten sich korrekt. Sie handeln im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten. Doch Benni ist nirgends das einzige Kind, das Schutz und Liebe benötigt. Benni erlebt Ablehnung und provoziert diese als einzige mögliche Reaktion. Denn sie muss ihrem nicht heilen wollenden Schmerz Ausdruck zu verleihen. Sie tut das, wo immer sie es einrichten kann. Nicht umsonst wächst die Liste derer, die sie aufgegeben haben, ins Unermessliche.

Nicht Benni ist der Systemsprenger

Das System aus Ärzten, Sozialarbeitern, Pychologen und Pflegefamilien, das für Benni zur Verfügung steht, hat Grenzen. Wer sich um das Wohl des Kindes bemüht, kann ihm immer nur für einen Moment Halt geben. Die Menschen, die an Benni glauben, str0ß selbst an ihre Grenzen und die des Systems. Da ist Frau Banafé, die den Fall im Jugendamt betreut und nicht locker lässt. Oder Micha, der Benni als Schulbetreuer zur Seite gestellt wird. Er erweist sich zunächst für Bennis Wut als ein heilsamer Partner. Als zwischen ihm und dem Mädchen eine echte Bindung entsteht, entschließt sich Micha, den Fall abzugeben. Er muss sich selbst schützen. Ihm bleibt keine andere Wahl. Für Benni ist damit erneut eine gangbare Perspektive im Nichts zerplatzt.

Nora Fingscheidt hat für ihren Film Systemsprenger lange recherchiert. Sie hat sich überall im System umgeschaut. Wo es möglich war, hat sie außerdem in verschiedenen Einrichtungen mitgeholfen. Dennoch musste sie erkennen, dass „die Realität ist noch viel schlimmer“ ist als der Plot ihres Films. Was wir durch die großartige Darstellerin Helena Zengel erleben, das ist die Spitze eines Eisbergs. Bindungsgestörte Kinder sind in höchster Gefahr. Trotz aller Bemühungen. Dass sie zum Systemsprenger werden, liegt nicht an ihnen. Genauso wenig liegt es an denen, die im Rahmen das Systems agieren und helfen wollen.

Wann muss die Hilfe ansetzen?

Was also kann das System für Eltern tun, wenn sie Kinder in die Welt setzen, ohne dieser Aufgabe gewachsen zu sein? Keine Frage: Die Verantwortung, die wir als Eltern für unsere Kinder übernehmen, kann und soll uns Niemand abnehmen. Wo aber wird diese Verantwortung gelernt? Welche Werte vermittelt unsere Gesellschaft? Jedes Kind hat das verbriefte Recht, in behüteten Verhältnissen aufzuwachsen und sich zu entfalten. Wenn die Eltern versagen, muss die Gesellschaft einspringen. Mit diesen Fragen steht man am Ende des Films da, ohne eine Antwort zu haben. Aber das ist auch gut so. Der Film zeigt auf, wo der Finger in die Wunde gelegt werden muss.

Im Abspann habe ich übrigens gelesen, dass einzelne Szenen im Krankenhaus Bethel Berlin gedreht wurden. Wie schön, dass dieser großartige Film in einem engagierten Berliner Krankenhaus eine Location gefunden hat. Dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Text: Gerburg Richter | Foto: Berlinale Berlin